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Test - Man of Medan : Geisterschiff-Horror von den Until-Dawn-Machern

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Mit Until Dawn erwarben sich Supermassive Games den Ruf als Experten für Hochglanz-Trash zwischen verlässlicher Tradition und verspielter Hommage an klassische B-Horrorgenres. Mit The Dark Pictures Anthology geht der Entwickler diesen Weg konsequent weiter und baut ihn zur langfristigen Pilgerreise aus: Denn im Halbjahresabstand sollen immer neue Teile der Reihe erscheinen. Jeder davon steht losgelöst von den anderen für sich und widmet sich einem eigenen Thema aus der weiten Genre-Bandbreite vom Grabbeltisch für schaurige Groschenheftchen. Den Anfang macht Man of Medan mit seiner Gruselmär vom Geisterschiff.

Until Dawn erwies in einem kühnen Mischverhältnis den Genres Teenie-Slasher, Backwoods-Horror, Monster-Invasion und Torture-Porn seine Reverenz, verquirlte sie einmal kräftig gegen den Uhrzeigersinn und braute daraus eine zwar bisweilen hochgradig trashige, aber mindestens ebenso unterhaltsame Mixtur, die runterging wie Öl. Mit viel Beigeschmack von Blut. The Dark Pictures Anthology schickt dieses Rezept nun in die Serienfertigung: Jeder Teil erzählt seine eigene, etwa fünfstündige Grusel-Kurzgeschichte mit eigenem Setting, eigenen Charakteren und eigener abgeschlossener Geschichte.

Während sich in Until Dawn eine Gruppe stereotyper Jugendlicher in einer einsamen Berghütte zum Feiern traf, bis sie Opfer eines irren Serienmörders und eines indianischen Monsterfluchs wurden, trifft sich in Man of Medan eine Gruppe stereotyper Jugendlicher zum Feiern auf einem einsamen Bootsausflug, bis sie Opfer von skrupellosen Schatzsuchern und Zombiesoldaten aus dem Zweiten Weltkrieg werden. Die Parallelen zwischen den beiden Spielen sind mehr als offensichtlich – Fans von Until Dawn haben also eine klare Vorstellung davon, was sie erwartet; nur eben im deutlich kleineren Maßstab.

Hüben wie drüben spielen wir im ständigen Personenwechsel eine Clique von fünf jungen, meist neureich-verwöhnten Menschen, deren Persönlichkeit ihnen vom ersten Augenblick an auf die Stirn gestempelt scheint: der schüchterne Nerd, der blasierte Draufgänger, die mürrische Bootskapitänin, die selbstbewusste Wohlstandsblondine und ihr Sonnyboy-Freund, der das Herz aber am rechten Fleck trägt.

Gemeinsam brechen sie zu einem Bootstörn auf, um Sachen zu machen, die junge Leute in solcherlei Geschichten eben machen: Bier trinken, Sprüche klopfen – und sich völlig leichtsinnig in Gefahr begeben, was den Traumurlaub urplötzlich zum Albtraum werden lässt. So dauert es nicht lange, bis sie von einer Gruppe dubioser Schatzsucher entführt und auf ein Geisterschiff aus dem Zweiten Weltkrieg verschleppt werden, auf dem unheimliche Dinge vor sich gehen und Tod und Verderben und Zombies hinter jeder Ecke zu lauern scheinen …

Mehrfach durchspielen empfohlen

Wie schon Until Dawn brilliert auch Man of Medan durch seinen bewundernswerten Variantenreichtum im Geschehen. Zwar schlägt die Geschichte, wie in solcherlei Spielen üblich, nie eine komplett abweichende Richtung ein, doch im Gegensatz zu beispielsweise den Telltale-Games wirkt sich fast jede einzelne eurer Entscheidung in irgendeiner Weise, mal mehr, mal weniger, zumindest aber immer in Nuancen, auf den Handlungsverlauf aus.

Allein schon eine Szene im ersten Kapitel, in der die Entführer das Boot der Gruppe kapern, lief abhängig von den getroffenen Entscheidungen bei jedem unserer fünf Male Durchspielen stark unterschiedlich ab: Ergebt ihr euch sofort eurem Schicksal? Oder versucht ihr, die Eindringlinge zu überwältigen? Wagt ihr die Flucht mit dem Beiboot, um Hilfe zu holen? Verratet ihr euren Freund, der sich versteckt hält? Oder verschweigt ihr seine Anwesenheit in der Hoffnung, er werde euch im entscheidenden Moment retten, geht dabei aber das Risiko ein, dass er im stürmischen Seegang über Bord geht? Kooperiert ihr nicht, sondern lehnt euch im Verhör gegen den Peiniger auf, kann es passieren, dass er euch verprügelt oder gar ein Ohr abschneidet, was den Rest des Spiels über sichtbare Spuren hinterlässt. Ja, einer der Protagonisten kann in dieser Szene sehr früh im Spiel sogar schon sterben, wodurch der Rest der Geschichte ohne ihn auskommen muss. Allein schon für den hierfür nötigen produktionstechnischen Aufwand muss man den Entwicklern ein Lob aussprechen. Oder zumindest ein Fleißkärtchen ausstellen.

Doch selbst in Fällen, in denen die Entscheidungen nicht derart weitreichende Konsequenzen wie den Tod einer Hauptfigur zur Folge haben, bewirken sie dennoch meist eine kleine, aber irgendwann merkliche Verschiebung im Beziehungsgeflecht der Personen untereinander: Bringt ihr lieber eure eigene Haut in Sicherheit, statt eurer Freundin in höchster Gefahr beizustehen, wird diese sich die Sache mit dem Heiratsantrag später vielleicht nochmal überlegen. Söhnen sich die beiden ungleichen Brüder aus, statt sich ständig gegenseitig zu hänseln, halten sie auch in kritischen Situationen tapfer zusammen. Geht die reservierte Powerfrau auf die Avancen des Aufschneiders ein, so entwickelt sich womöglich eine Liebschaft daraus und nicht bloß eine frotzelnde Zweckgemeinschaft wider Willen.

Wirkt die Spielzeit von gerade mal fünf Stunden auf den ersten Blick vermutlich enttäuschend kurz, harmoniert sie auf den zweiten besonders gut mit dem hohen Variantenreichtum im Handlungsverlauf, weil das eine den Wiederspielwert stark erhöht und das andere die Hemmschwelle dafür senkt. In der kompakten Form ist man als Spieler eher motiviert, das Spiel erneut oder gar vielfach durchzuspielen, um die unterschiedlichen Abläufe der Szenarien und die verschiedenen Enden zu erleben. Oder einfach nur, um alle Charaktere zu retten. In meinem ersten Spieldurchlauf sind übrigens alle gestorben. Im dritten haben sie dann alle überlebt.

Käufer sollten sich jedenfalls von Anfang an im Klaren sein, was sie mit Man of Medan erhalten: das spielgewordene Pendant zu einer Grusel-Kurzgeschichte aus dem Zeitschriftenregal der Gespenstercomics und weniger Blockbuster-Kino in Überlänge wie Until Dawn oder Detroit: Become Human.

So attraktiv das Westentaschenformat unter manchem Gesichtspunkt erscheinen mag, so verhindert es allerdings auch, dass sich Man of Medan zu erhabener Größe aufzurichten vermag. Während die Geschichte von Until Dawn gleich mehrere überraschende Haken schlug und seine Charaktere eine Entwicklung durchlaufen ließ, tritt Man of Medan lange Zeit auf der Stelle und läuft irgendwann nur noch mit Siebenmeilenstiefeln dem Ende entgegen. Und das nicht nur sprichwörtlich, denn im letzten Viertel des Spiels seid ihr gefühlt nur noch mit Wegrennen beschäftigt.

Das Ende kam dann auch sehr plötzlich und unerwartet und fühlte sich entsprechend unbefriedigend und überhastet an – als hätte da noch deutlich mehr kommen können. Wo Until Dawn zudem auf recht clevere Weise mit den Genremustern und der Erwartung an gängige Horrorklischees spielte, diese ironisch brach und auf unerwartete Weise unterwanderte, nimmt sich Man of Medan zu jeder Sekunde bierernst - und macht es sich gerade dadurch selber etwas schwer, ernst genommen zu werden.

Mehr SchleFaZ als Fantasy-Filmfest

Denn trotz dunkler Gänge, knarzender Türen und entstellter Leichen – so richtig gruselig wird es eigentlich nie. Dafür ist Man of Medan dann doch letztlich zu sehr in die Fresse statt in die Eingeweide, mehr SchleFaZ als Fantasy-Filmfest, mehr tumbes Huibuh als feinsinniger Suspense. Die unzähligen Jumpscares riechen jedenfalls irgendwann mindestens so muffig wie die Mottenkiste, aus der sie hüpfen. Wer solcherlei Guilty Pleasure zu schätzen weiß, der wird nicht trotz, sondern gerade deswegen eine Menge Spaß daran finden.

Ähnlich ambivalent verhält sich das Kernelement dieses Genres: die Entscheidungen. So schön es ist, dass sie zahlreiche unterschiedliche Konsequenzen nach sich ziehen, so irrelevant erscheinen sie auf emotionaler und psychologischer Ebene. Entscheidungen richten sich fast ausschließlich auf reine Oberflächeneffekte, ob sich die Charaktere mögen oder nicht, ob sie überleben oder sterben, ob sie mutig oder vorsichtig handeln und ob sie links oder rechts den Gang entlang rennen – Entscheidungen der puren Aktion also, keine moralischen Fragen wie in Detroit: Become Human oder unerträgliche Zwickmühlen wie in The Walking Dead, die weniger die bloße Angstlust des Mitfieberns mit den Charakteren ins Zentrum als vielmehr die eigene Persönlichkeit auf die Probe stellten.

Die Spannung des Spiels speist sich daher eher aus reinen Momenten der Handlung, keinen der Psychologie oder Moral: aus der Ungewissheit über die möglichen Konsequenzen des eigenen Handelns, der puren (Quicktime-)Action und der Seifenoperndynamik zwischen den Charakteren. Die Wahlmöglichkeit legt dem Spieler keine Last auf, die ihn überwältigt, sondern gibt ihm lediglich die Weichensteuerung für die Geisterbahn in die Hand.

Dennoch oder gerade deswegen ist Man of Medan zu jeder Sekunde hochgradig unterhaltsam, was unter anderem auch an seiner von Supermassive gewohnt hohen Produktionsqualität liegt. Visuell gehört der Titel einmal mehr ganz klar in die grafische Champions League: irre Detailfülle, professionelle Schauspieler und ein technischer Budenzauber aus Licht, Schatten, Rauch und Effekten, der noch vor wenigen Jahren allenfalls in vorgerenderten CGI-Videos möglich war.

Allenfalls den Gesichtsanimationen gelingt es wie schon in Until Dawn trotz immensen Aufwands beim Performance-Capturing nicht in jedem Moment den Riss zu verschließen, der noch immer durchs Uncanny Valley klafft. Bei extremen Gesichtsausdrücken, etwa breitem Grinsen oder angstvollem Staunen, wirken die Regungen maskenhaft verzerrt, die Zähne allzu gefletscht, beinahe schon gruseliger als der eigentliche Gespensterspuk.

Unbedingt empfehlenswert: der Koop-Modus

Als absolut einzigartig im Genre darf der Koop-Modus von Man of Medan gelten, der dem Spiel völlig neue Facetten verleiht, die im Einzelspiel gar nicht möglich sind. Nur der Vollständigkeit halber erwähnen wir an dieser Stelle den ersten der beiden Spielmodi, den Couch-Koop für bis zu fünf Spieler, in dem jeder Mitspieler einen der Charaktere übernimmt und der Controller jedes Mal weitergereicht wird, wenn einer der anderen an der Reihe ist. Nett, aber abgesehen vom gemeinsamen Erlebnis stellt sich dabei nur bedingt eine grundlegend neuartige Erfahrung ein.

Unbedingt empfehlenswert ist aber der 2-Spieler-Online-Koop: Hier erlebt jeder Spieler die Geschichte aus seiner ganz eigenen Perspektive: Ihr spielt nicht die ganze Zeit über denselben Charakter, sondern alle fünf immer mal wieder im Wechsel, jeder der beiden Spieler aber einen eigenen. Das bringt eine völlig neuartige Dynamik in Gang: So sprechen die beiden Spieler etwa in manchen Dialogszenen miteinander, streiten, loben oder necken sich, helfen sich in Quicktimesequenzen gegenseitig aus der Patsche oder müssen vor Angst zitternd im Versteck gleichzeitig die Luft anhalten, um von den Gegnern nicht entdeckt zu werden. Spielerisch ist das freilich nie so raffiniert wie in A Way Out – Man of Medan geht es ausschließlich um das Vermitteln von Handlung, nicht um Gameplay. Doch genau dadurch erlebt ihr fast schon so etwas wie die Geburt einer neuen Erzählform.

Denn das Teilhaben an der gemeinsamen Geschichte aus unterschiedlichen Perspektiven hat erstaunliche Effekte zur Folge: Zum einen gibt der Modus jedem Spieler die Möglichkeit, seine Charaktere auf eine ihm ganz eigene Weise anzulegen, ihnen eine individuelle Persönlichkeit und Verhaltensweise angedeihen zu lassen. Dadurch erhält das Spielen fast schon eine Anmutung klassischer Pen-and-Paper-Rollenspiele, in denen jeder Spieler seine Charaktere nach seiner eigenen Vorstellung als Rolle „ausspielt“.

Verhält sich der andere Spieler durch seine Entscheidungen und Gesprächsoptionen mir gegenüber hilfsbereit und freundlich, bin ich eher bereit ihm auf gleiche Weise entgegenzukommen. Behandelt er mich barsch und herablassend, reagiere ich möglicherweise patzig - oder eingeschüchtert. Wie ihr wollt.

Indem das Spiel die Mitspieler zudem immer wieder voneinander trennt und sie Nebenhandlungen erleben lässt, die der jeweils andere nicht mitkriegt, ergeben sich interessante Lücken und Brüche in der Handlung. Während der eine Spieler beispielsweise zum versunkenen Flugzeugwrack hinabtaucht und dort eine schockierende Entdeckung macht, bleibt der andere Spieler an Bord des Bootes zurück und kriegt davon nichts mit. Stattdessen kommt es bei ihm zur ersten Konfrontation mit den späteren Bösewichtern, was wiederum dem anderen Spieler auf seinem Tauchgang verborgen bleibt.

The Dark Pictures Anthology: Man of Medan - gamescom 2019 Introduction Trailer
Das Video verschafft euch einen generelle Einführung in das Horror-Abenteuer Man of Medan.

Im Anschluss ans Spiel lässt sich dann mit heller Begeisterung stundenlang einander berichten, was der jeweils andere erlebt hat, warum man welche Entscheidung getroffen hat und wie sich die unterschiedlichen Handlungsfäden zusammenfügen. Auf diese Weise verlängert Man of Medan seine Spielzeit weit über sich selbst hinaus, wenn man schon längst damit durch ist. „Wo warst du eigentlich, während ich im Laderaum eingeschlossen war? Ach so, darum also schwamm plötzlich dieses ganze Geld im Wasser! Wieso hast du eigentlich in dieser einen Szene dein Versteck verlassen statt heimlich abzuhauen? Und vor allem: Hab ich dich wirklich aus Versehen getötet?“ Garantiert werden Viele nach dem Abspann große Lust verspüren, das Spiel gleich nochmal mit vertauschten Rollen durchzuspielen.

Kleiner Wermutstropfen: Während unseres Tests kam es im Multiplayer immer wieder zu Rucklern, die gelegentlich sogar manches Quicktime-Event zum Spießrutenlauf werden ließen. Der Einzelspieler-Modus lief deutlich flüssiger, wenngleich nicht völlig störungsfrei. Wir hoffen, dass an dieser Stelle noch nachgebessert wird.

Tipp: Wir empfehlen, den Koopmodus zu spielen, BEVOR ihr euch ins Einzelspiel begebt. Denn nur wenn ihr völlig unvorbereitet ans Werk geht, kann die besondere Erzählweise ihre volle Wirkung entfalten. Habt ihr vorher schon den Singleplayer gespielt, so kennt ihr viele der Verzweigungen, Wendungen und Parallelhandlungen schon, wodurch sie viel von ihrem Effekt verlieren.

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