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Test - Toem : Das entspannendste Spiel des Jahres

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Toem ist ein etwas merkwürdiges, ein etwas anderes Spiel. Manch einer mag darüber streiten, ob es überhaupt ein Spiel ist. Verwandtschaftliche Bande mit dem Genre der Walking-Simulatoren sind ihm nicht abzusprechen; die Entwickler selbst bezeichnen es als Foto-Adventure und kommen mit dieser Beschreibung ziemlich präzise in seine Nähe. Wie immer dem auch sei, ist Toem eine für Videospiele außergewöhnlich entspannende Erfahrung, die schon bald verzaubert, verzückt und beglückt.

Toem ist wie ein spielgewordener Urlaub. Ihr zieht hinaus in die Welt, um sie zu entdecken und das Entdeckte in Fotos festzuhalten. Das ist tatsächlich schon alles in aller Kürze gesagt. Doch um zu ergründen, warum das eine solch faszinierende Erfahrung bildet, ließe sich vermutlich stundenlang diskutieren.

Balsam für die Seele

Toem ist Balsam für die Seele. So würde ich es vermutlich in einem Satz formulieren. In einer Welt, die sich zusehends schneller zu drehen scheint, und Videospiele zwar eine Flucht daraus ermöglichen, aber dies meist mit Reizüberflutung und Anstrengung einhergeht, ist Toem wie ein großer Wattebausch, in den man sich tröstend fallen lässt.

Toem ist in jeder Faser seines Wesens warmherzig und herzerwärmend. Allein schon sein Anfang: Ihr beginnt dort, wo jede Reise ihren Anfang und ihr Ende nimmt. Zu Hause. Im behütenden Heim von Oma. Von ihr bekommt ihr eine Fotokamera ausgehändigt und werdet hinausgeschickt in die große weite Welt, um das Glück zu erfahren, sie zu erleben. Und eure Erlebnisse in Bildern festzuhalten.

Und so geht es los. Nach und nach bereist ihr vier verschiedene Regionen: ein abgelegenes Hotel im Wald, das von Pfadfindern und abenteuerlustigen Wanderern besucht wird. Ein Fischerdorf, wo Urlauber sich am Strand sonnen und alte Seebären vergangenen Zeiten hinterherträumen. Eine geschäftige Großstadt, in der gestresste Büroangestellte durch den Straßenverkehr wuseln und Bauarbeiter für ständige Veränderung sorgen. Und eine verschneite Gebirgsregion voller Skifahrer und spleeniger Einsiedler.

Die Lust an Toem entsteht darin, diese Gegenden zu erkunden und die vielen kleinen Geschichten zu entdecken, die die Entwickler dort für den Spieler ausgebreitet haben. Der müde Wanderer trocknet seine Socken auf der Leine – doch natürlich: eine Socke fehlt. Wenn ihr sie später im Wald findet, macht ihr ein Foto davon und bringt es ihm, worüber er sich freut. Der Pfadfinder sucht einen seltenen gestreiften Pilz. Der Punkrocker auf der Parkbank würde gerne Vögel füttern, doch fehlen ihm die Brotkrumen dazu. Ein Yeti ist auf der Suche nach etwas, das ebenso kuschelig und weich ist wie er selbst. Eine Luftballon-Familie feiert Kindergeburtstag – doch der Sohnemann wurde von einem Windstoß davongeweht ...

Toem ist kein narratives Spiel im Sinne eines typischen Adventures, in dem jeder NPC erst seine belanglose Lebensgeschichte vom Stapel lässt. Die „Geschichten“ von Toem sind allesamt in jeweils einem Satz zu erzählen, oder besser gesagt: in einem einzelnen Bild. Manche sind charmant, manche zum Schmunzeln, andere wiederum recht gewöhnlich, keine einzige wirklich spektakulär, aber gerade das macht Toem zu einer solch runden Sache: Es will euch nicht beeindrucken, bewegen, in Aufregung versetzen oder gar erschüttern. Es ist im Grunde wie ein Wimmelbild-Buch, das euch einlädt, stundenlang seine vielen kleinen Szenen zu betrachten, sich darin zu verlieren, die Momentaufnahmen gedanklich weiterzuspinnen und dabei irgendwann festzustellen, dass man alles andere darüber für einen schönen Moment lang völlig vergessen hat.

Toem ist ein Spiel, das euch eine neue Sichtweise lehren möchte, das euch beibringt mit wachen Augen durch die Welt zu gehen und hinzuschauen, wo andere in die Leere starren, Neugier zu entfalten für die kleinen Dinge des Lebens, die im gestressten Alltag zumeist übersehen werden, und zwar nicht als Voyeur, sondern als interessierter Beobachter, der in den scheinbaren Nebensächlichkeiten die wahren Besonderheiten entdeckt und sich daran erfreut, sie offenbart zu haben und helfen zu können.

Toem ist ein Spiel der ständigen Neugierde. Neugier darauf, was unter der Treppe versteckt sein könnte oder welches Tier dort im Gebüsch raschelt. Klick! In dem ihr von allem, das irgendwie von Interesse scheint oder von Bedeutung werden könnte, Fotos macht. Klick! Von der Krähe, die ein Frisbee geklaut hat und es auf einem Baum versteckt hat. Klick! Von der Eiswaffel, die im Meer treibt. Klick! Von dem seltsamen Mann im Trenchcoat, der unter der Brücke steht. Oder lauert? Klick! Von den zahlreichen Tieren, die ihr in eurem Album dokumentiert und für die es natürlich eine Trophäe gibt, wenn ihr sei alle findet.

Klick! Klick! Klick! Toem ist in diesem Sinne natürlich auch ein Spiel der ständigen Befriedigung durch Belohnungen. Es ist kein Spiel der Herausforderung, der grübelnden Rätsel oder unüberwindbaren Gefahren. Es ist ein Spiel, in dem im Sekundentakt Punkte auf der Checkliste abgehakt werden: das Foto vom Schneemann, das ihr für das traurige Kind machen solltet. Klick! Check! Das Sandwich, das ihr für den hungrigen Arbeiter suchen solltet. Klick! Check! Der scheue Käfer, der euch als letztes noch fehlende Waldtier im Album gefehlt hat. Klick! Check! Trophäe!

Immerhin fünf bis sechs Stunden dauert Toem, bis ihr es durchgespielt und alle Aufgaben bis zur Platin-Trophäe erledigt habt. Und auch wenn die Entspannung, die unaufgeregte Reise und die pure Lust am Erkunden stets im Vordergrund steht, werden die Aufgaben zum Ende hin zunehmend kniffliger, sodass bisweilen ein bisschen Um-die-Ecke-Denken nötig wird, um auf die Lösung zu kommen. In diesen Momenten ähnelt Toem am ehesten einem „richtigen Spiel“, einem klassischen Adventure etwa, kann mitunter sogar ermüden, weil man nunmal auf dem Schlauch steht, wenn man mal auf dem Schlauch steht – aber für solche Fälle gibt es Guides im Internet.

Man muss jedenfalls schon ein bisschen seiner Fantasie freien Lauf lassen, um zu verstehen, was das „außergewöhnliche Ereignis“ sein soll, das der rasende Reporter von euch im Bild festgehalten wünscht. Oder wie ihr es anstellen sollt, euch „in eine Blume zu verwandeln“. (Antwort: Ihr müsst euch hinter eine Fototapete mit einer aufgemalten Blume stellen und ein Selfie machen.)

Socken zum Frohlocken

Toem ist eine regelrecht meditative Erfahrung, wozu vor allem auch der verträumte Elektro-Soundtrack von den Indie-Musikern Launchable Socks und Jamal Green einen maßgeblichen Beitrag leistet. Die sanften, sphärischen Töne mit ihren eingängigen und doch unaufgeregten Melodien lassen die Gedanken sofort auf Wanderschaft gehen und schmiegen sich auf völlig natürliche Weise in die minimalistische Schwarz-Weiß-Spielwelt, deren einzigartiger Stil irgendwo zwischen niedlichem Kinderbuch zum Ausmalen, alten Zeitungskarikaturen und Stempelbuch zu schweben kommt und darin so unaufgeregt, unspektakulär und betont unperfekt auftritt wie Toem selbst.

Toem - Trailer

Im zauberhaften Indie-Spiel TOEM spielt ihr einen neugierigen Fotographen, der auf eine Reise aufbricht und seine Erlebnisse mit seiner Kamera festhält.

Greift zu, wenn...

… ihr zur Abwechslung mal bei einem Spiel die Ent- statt Spannung sucht.

Spart es euch, wenn...

… ihr Spielen mit wenig Gameplay, Story und tieferem Sinn skeptisch gegenüber steht.

Fazit

Matthias Grimm - Portraitvon Matthias Grimm
Die pure Entschleunigung: Toem ist eine zutiefst entspannende, herzerwärmende Erfahrung

Ich bin immer noch erstaunt und ehrlich gesagt etwas irritiert, dass und wie es Toem gelang, mich in seinen Bann zu ziehen. War ich anfangs noch enttäuscht darüber, dass es sich konventionellem Gameplay fast vollständig verweigert, keinerlei Herausforderung bietet und selbst seine Geschichten in keiner Weise spannend, berührend oder überhaupt interessant erscheinen lässt und dabei auch stilistisch nicht ins Schwelgen versetzt, wie es derlei kontemplative Indiespiele in der Regel zumindest anstreben, merkte ich nach einer Weile, dass ich nicht mehr aufhören wollte, nein, konnte es zu spielen.

Die Gründe dafür habe ich paradoxerweise gerade eben allesamt aufgezählt: Genau weil sich Toem so unspektakulär gibt, nicht fordern, nicht imponieren, nicht einmal begeistern oder gar unterhalten will, schaltet sich der Kopf irgendwann vollständig ab und hüllt seine Gehirnwindungen in puren Seelenbalsam. Toem verzaubert, verzückt und beglückt – und das nicht trotz, sondern gerade weil es so unaufgeregt ist. Toem ist die pure Bescheidenheit: Selbst wenn es lustig ist, begnügt es sich mit einem Schmunzeln. Toem ist die spielgewordene Demut in einer Welt, die verlernt hat, sich nicht ständig selbst am geilsten finden zu müssen.

Manch einer wird das unendlich belanglos finden, manch einer wird Spannung, Spiel und Randale vermissen, andere wird es einfach nur kalt lassen oder bilanzieren, da „wäre mehr drin gewesen“ – und ich würde ihnen nicht einmal widersprechen. Letztens Endes läuft man die ganze Zeit einfach nur rum und schaut, ob man irgendwas übersehen hat. Sonderlich prickelnd ist das nicht, wahnsinnig kreativ oder geistreich ebenfalls nicht.

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Ob ich Toem daher wirklich so gut finden muss, wie es vermutlich in der Schwärmerei rüberkommt, zu der ich mich hab hinreißen lassen, ob ich überhaupt jemandem guten Gewissens empfehlen kann, dafür Geld auszugeben, ohne seinen Zorn auf mich zu lenken – ich weiß es ehrlich gesagt nicht. Aber auch das ist das Schöne an Toem: ist doch egal, habt euch einfach alle lieb. Ergibt das irgendeinen Sinn?

Überblick

Pro

  • entschleunigt entspannende Erfahrung
  • lauter kleine entzückende Momente
  • sehr belohnend
  • niedlicher s/w-Wimmelbild-Stil
  • wunderschön atmosphärischer Elektro-Soundtrack

Contra

  • ungeeignet für Spieler, die Spannung, Spiel und Randale suchen
  • spielerisch und erzählerisch unspektakulär

Awards

  • Sound
    • NSw
    • PC
    • PS5

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